strübel & passig

Aufzeichnungen aus der Tiefkühltruhe

Die Vernunft beginnt bereits in der Küche. (Friedrich Nietzsche)

Wie die anderen hippen jungen Erwachsenen meiner Branche schwärme ich in Gesellschaft angetan von Sushi - doch insgeheim esse ich zu Hause auch heute noch ganz gerne hin und wieder Fischstäbchen.

Und nach wie vor bin ich felsenfest überzeugt: Fischstäbchen sind ein unterschätztes Lebensmittel. Literarisch wie philosophisch. Man schaue nur auf die Fischstäbchenpackung: "Serviervorschlag" steht dort in anmutiger Bescheidenheit. Ganz zu schweigen von anderen graziösen, viel zu selten gebrauchten Vokabeln wie "Seehecht", "Panade", "Fischeinwaage" - und natürlich, Highlight und Glanzlicht jeder Tiefkühlfischpackung: "praktisch grätenfrei".

Mit dieser ambigen Aussage sind wir alle groß geworden (außer wir hatten Pech und makrobiotische Eltern). Bis heute stehen die Interpretadores diesem ungeheuer melodischen Wortgebilde fragend gegenüber: Sind die Fischstäbchen denn nun praktisch, weil grätenfrei? Oder quasi fast grätenfrei, praktisch irgendwie beinahe?

Eine Ambiguität wie zwischen Seientheit und Sein tut sich da auf, und unter den Lebensmitteldenkern ein Graben wie zwischen Popper und Adorno, darüber, wie der Satz zu interpretieren sei. Das ist eine ganz und gar grundsätzliche Frage, und nur der Kurzsichtige wird sie als irrelevant für Dasein und So-Sein abtun. Der kluge, weitsichtige Fischesser aber wird beim Genuss des Blockgefrorenen nicht aufhören können, darüber zu sinnieren, nicht unängstlich, denn das richtige Verständnis der Sentenz könnte inspirierend, ein falsches aber lebensbedrohlich sein - die ewige Suche nach dem Sinn wird allemal neu angeregt.

Ich jedenfalls bin geneigt, zu behaupten, dass etwa Ludwig Wittgenstein recht regelmäßig Fischstäbchen aß und an "praktisch grätenfrei" beinahe verzweifelte. Wie sonst kommt jemand zum Beispiel zu der gestrengen und fast trotzig fordernden Behauptung, dass alles, was gesagt werden kann, präzise gesagt werden könne? Doch nur in der Konfrontation mit dem Zweifel selbst. (Historische Tatsachen, die diese These untergraben könnten, interessieren dabei herzlich wenig. Wittgenstein war schließlich dem Denken seiner Zeit voraus. Da kann er auch etwas gegessen haben, was es seinerzeit noch garnicht gab. Wäre ich Peter Sloterdijk, würde ich dies tollkühne Manöver übrigens souverän als Subversionsübung gegen den Absolutismus der Geschichte wider alle Anfeindung absichern.)

Ach ja - Sloterdijk, dieses beste Möbel in der nationalen Philosophenstube, das Popsofa deutschen Denkens, hat im Übrigen, so glaube ich, ein sehr gesundes Verhältnis zu Fischstäbchen. Wie sonst erklären sich leckere Vokabelschöpfungen wie "Eurotaoismus", "neuer Weltvertrag" und "Immun-Mix". Da tobt doch die reine Lust an der praktischen Grätenfreiheit der Sprache. Solch lobenswerte Anregung zur permanenten Sinnsuche gehört in jeden Haushalt. "Philosophie jetzt!" fordert Sloterdijk dann auch konsequenterweise als Herausgeber der gleichnamigen Buchreihe im Diederichs Verlag. Das ist doch mal ein Serviervorschlag, sage ich. Und für uns alle von Sloterdijk vorgebraten. Toller Seehecht, unser Peter.

IRA STRÜBEL

gefühltes alter - geschichtetes alter
Kathrin Passig, 28.12.2000

ich & kurt scheel
Kathrin Passig, 30.11.2000

tod im rübenfeld
Kathrin Passig, 26.10.2000

reich-ranickis retro-pointen
Ira Strübel, 17.10.2000

britischer cargo-kult
Kathrin Passig, 28.9.2000

telearbeit bei muttern
Kathrin Passig, 28.8.2000

der personalruss
Kathrin Passig, 27.7.2000

wirtschaftsfreundliche eiskunde
Kathrin Passig, 29.6.2000

Nach dem Frühstück ins Bett
Kathrin Passig, 20.6.2000

plazenta auf der zunge
Kathrin Passig, 25.5.2000

ich bin ein entwicklungsroman
Ira Strübel als Kathrin Passig, 27.4.2000

surfen im neonarzissmus
Kathrin Passig, 22.3.2000

Erm! Ural! Ordeina! Oruska!
Kathrin Passig, 24.2.2000

Piblotoq, Pa-leng, Ufufuyane
Kathrin Passig, 27.1.2000

Aufzeichnungen aus der Tiefkühltruhe
Ira Strübel, 26.1.2000

Perverser Kino-Terror
Ira Strübel, 27.11.1999

Die 120 Tage von Sadekrokan
Kathrin Passig, 23.11.1999

Gummi-Bärchen
Kathrin Passig, 2.7.1996

 

strübel & passig 2003

strübel & passig 2002

strübel & passig 2001

Die Wahrheit 2002-2003

Die Wahrheit 2001

Die Wahrheit 1996-2000

Häufig gestellte Fragen