Man wird ja an unterschiedlichen Körperteilen unterschiedlich schnell erwachsen. Damit meine ich nicht nur den Umstand, dass der Kopf bereits Falten bekommt, während die Füße noch Turnschuhe mit Dinosauriermotiven tragen wollen. Anfangs ist die Ontogenese sowieso hauptsächlich damit beschäftigt, mühsam die Phylogenese zu rekapitulieren, weshalb ganz junge Menschen oft noch ein Ökobeutelchen oder einen Fransenrock haben, die erst auf einer höheren Entwicklungsstufe wieder abfallen.
Später wird dann alles noch undurchschaubarer. Das Erwachsenwerden durchdringt die Gesamtperson in der gleichen schlecht geordneten Weise, wie ganz unterschiedliche Erdzeitalter manchmal durchaus nebeneinander stattfinden wollen. "Denn mehr als einmal kommt es ja vor, dass eine Schichtfolge durch tektonische Bewegungen buchstäblich auf den Kopf gestellt ist; dann liegt das Jüngste zuunterst, das Älteste oben drauf", weiß das DDR-Buch "Geologie für jedermann". Oben drauf liegen bei mir nach einer flüchtigen Zwischeneiszeit ums zwölfte Lebensjahr herum schon seit geraumer Zeit wieder Westernhefte, Frühstücksflocken-Sammelbildchen und Brillen, mit denen man andere Menschen nackt sehen kann.
Nur selten schichtet die Plattentektonik der Psyche halbwegs sinnvolle Entwicklungen aufeinander, wie die Fähigkeit, angebotene Drogen auch mal abzulehnen, weil man zum Beispiel eh schon randvoll mit Bier ist (25 Jahre), am nächsten Tag früh aufstehen muss (30) oder insgesamt eigentlich keine Lust mehr auf Drogen hat (über 30). Die Bereitschaft, ausgiebig und schamlos zu husten, wenn einem jene Drogen in den falschen Hals geraten, ist zwar eins der Leitfossilien dieser Lebensalter, zur gleichen Zeit jedoch mögen sich anderswo steile Gebirgsformationen des Peinlichkeitsempfindens auffalten.
Außerordentlich peinlich wird es etwa, Aufsätze über Hermann Hesse zu schreiben, eine Fähigkeit, die sich jenseits der 20 zu einem unansehnlichen Wurmfortsatz zurückbildet. Das weiß ich, seit ich mich neulich in der Seepferdchen-, nein, in der Magisterprüfung zu Hesses Kritik am Erziehungssystem äußern musste. In der Folge übte das Erziehungssystem scharfe Kritik an mir, in Form einer Note, die mir bisher nur aus dem Sportunterricht bekannt war. Einen ganzen Nachmittag fühlte ich mich als akademischer Versager, aber zum Glück war die Schmach schnell vergessen, da mein Gedächtnis bereits im Rentenalter angekommen ist. So gern würde ich mir F.W. Bernsteins "Terzinen über die Vergesslichkeit" merken können, aber es geht nicht. Nur noch Bruchstücke wie "wie kann es sein, dass diese nahen Tage / Dings sind, für immer fort und schnirgel schnargel" bleiben hängen. Zahnlos (gefühltes Gebiss-Alter: 85) und verwirrt murmle ich sie vor mich hin, während ich mit den unmündigen Neffen hohe Lego-Duplo-Türme zum Einsturz bringe. Dann jauchzen wir und patschen in die Hände. "Transgression und Regression sind vielfach Anfang und Ende einer Formation."
KATHRIN PASSIG
gefühltes alter - geschichtetes alter
Kathrin Passig, 28.12.2000
ich & kurt scheel
Kathrin Passig, 30.11.2000
tod im rübenfeld
Kathrin Passig, 26.10.2000
reich-ranickis retro-pointen
Ira Strübel, 17.10.2000
britischer cargo-kult
Kathrin Passig, 28.9.2000
telearbeit bei muttern
Kathrin Passig, 28.8.2000
der personalruss
Kathrin Passig, 27.7.2000
wirtschaftsfreundliche eiskunde
Kathrin Passig, 29.6.2000
Nach dem Frühstück ins Bett
Kathrin Passig, 20.6.2000
plazenta auf der zunge
Kathrin Passig, 25.5.2000
ich bin ein entwicklungsroman
Ira Strübel als Kathrin Passig, 27.4.2000
surfen im neonarzissmus
Kathrin Passig, 22.3.2000
Erm! Ural! Ordeina! Oruska!
Kathrin Passig, 24.2.2000
Piblotoq, Pa-leng, Ufufuyane
Kathrin Passig, 27.1.2000
Aufzeichnungen aus der Tiefkühltruhe
Ira Strübel, 26.1.2000
Perverser Kino-Terror
Ira Strübel, 27.11.1999
Die 120 Tage von Sadekrokan
Kathrin Passig, 23.11.1999
Gummi-Bärchen
Kathrin Passig, 2.7.1996
Die Wahrheit 1996-2000